Indem man Raupen eine ungewohnte Nahrung verabreicht Rühl, 1895 - Die palaearktischen Grossschmetterlinge und ihre Naturgeschichte oder Puppen extremen Temperaturen aussetzt, kann man in einzelnen Stücken vorkommende, abweichende Abweichung von der normalen Form einer ArtAberrationen von Faltern erzeugen.
Die Bedingungsänderungen dürfen aber nicht zu groß ausfallen: Je extremer die Bedingungen, umso kleiner die Anzahl überlebender Puppen, aber umso größer die Abweichungen bei den Flügelzeichnungen Friedrich, 1986 - Breeding Butterflies And Moths Moucha; Vancura, 1973 - Schmetterlinge Tagfalter.
Derartig erzeugte Formen sind zwar künstlich herbei geführt, kommen aber unter besonderen seltenen Umständen auch in der Natur vor. Ein extrem heißer Sommer kann derartige Formen hervor bringen.
Gegen Ende des 19ten und Anfang des 20sten Jahrhunderts war die labormäßige Erzeugung von Abweichung von der normalen Form einer ArtAberrationen beliebter Gegenstand vieler wissenschaftlicher und weniger wissenschaftlicher Untersuchungen.
Dabei waren folgende Personen in besonderem Maße engagiert:
- Der in Wien, ÖsterreichWien/ÖsterreichÖsterreich geborene Mathematiker und Entomologe Georg Dorfmeister (1810-1881)Georg Dorfmeister
- Der am Polytechnikum in Zürich, SchweizZürich/SchweizSchweiz arbeitende Professor der Entomologie Max Standfuss (1854-1917)Max Standfuss
- Der Zürich, SchweizZüricher/SchweizSchweiz Arzt und Entomologe Emil Fischer (1868-1954)Emil Fischer
- Der Bonn, DeutschlandBonner/DeutschlandDeutschland Lepidopterologe Karl Frings (c.1873-1931)Karl Frings
Aus heutiger Sicht scheinen die damaligen Versuche mit ihren Beschreibungen und Ergebnissen häufig wenig präzise, unsystematisch und willkürlich. Trotz allem sind einige gewonnenene Erkenntnisse durchaus bedeutsam. Hier ist ein besseres Verständnis von saisonaler und geografischer Variabilität zu nennen, aber auch im Bereich die Stammesgeschichte betreffendPhylogenetik gibt es interessante und heute noch gültige Erkenntnisse.
Der Wien, ÖsterreichWiener Militärrechnungsrat und Lepidopterologe Heinrich Ritter von Mitis (1845-1905)Heinrich Ritter von Mitis schreibt über Abweichung von der normalen Form einer ArtAberrationen Ritter von Mitis, 1896 - Ueber Varietäten und Aberrationen von Schmetterlingen und deren Bedeutung für die Descendenz-Forschung:
Es ist noch nicht allzulange her, dass Sammler, welche mit Vorliebe und meist für theures Geld sogenannte Varietäten (richtiger Aberrationen) zu erwerben trachteten, ob dieser höchst unwissenschaftlichen Passion von Seiten zünftiger Gelehrten mit einer souveränen Missachtung behandelt wurden. Wie konnte man sich aber auch beikommen lassen, z.B. einen abnorm geformten oder gefärbten Falter, der ja doch eigentlich nur ein "Naturspiel", eine Missgeburt repräsentiert, für ein wissenschaftlich interessantes Object auszugeben, und ihm ein höheres Interesse entgegenzubringen, als etwa einer aussergewöhnlich construierten Uhr oder einer seltsam gestalteten Tabakdose.
...
Zum Schlusse noch einige Worte über die in neuerer Zeit fleissig betriebene künstliche Varietätenzucht. Diese oft von überraschendem Erfolge begleiteten Zuchtversuche sind zunächst ein treffliches Mittel, um die Einflüsse experimentell nachzuweisen, welche bei freilebenden Thieren das Entstehen von Aberrationen herbeiführen. Sie sind ferner, da manche auf diesem Wege gewonnenen Producte zweifellos atavistischen Character an sich tragen, hervorragende Hilfsmittel, um die Geheimnisse der Descendenz zu lüften. Sie gewähren endlich - insoferne sie sich mit der Kreuzung verschiedener Arten unter einander befassen, ein vorzügliches Hilfsmittel, um die Präponderanz der Geschlechter bei Uebertragung ihrer relativen Eigenthümlichkeiten auf die Nachkommen festzustellen.
Im Juli 2005 hatte ich das Glück, einer in der Natur entstandenen Abweichung von der normalen Form einer ArtAberration zu begegnen: Ein ungewöhnlich gezeichneter C-FalterPolygonia c-album (Linnaeus, 1758)Nymphalis c-albumC-Falter flog auf einem lichten Waldweg in der Nähe von Cochem, Rheinland-Pfalz, DeutschlandCochem/Mosel.
Auf den folgenden Fotos sind ein gewöhnlicher C-FalterPolygonia c-album (Linnaeus, 1758)Nymphalis c-albumC-Falter und die beobachtete Abweichung von der normalen Form einer ArtAberration des C-FalterPolygonia c-album (Linnaeus, 1758)Nymphalis c-albumC-Falters zu sehen.
Die Flügelzeichnung der Abweichung von der normalen Form einer ArtAberration sieht aus wie weich gezeichnet und ist vermutlich durch ungewöhnliche hohe Temperaturen in den ersten Tagen des Puppenstadiums entstanden.
Wahrscheinlich handelt es sich um Polygonia c-album f. suffusaPolygonia c-album f. suffusa (Linnaeus, 1758)Polygonia c-album f. suffusa (aufgeführt in der Online-Datenbank des Cockayne Trust, London).
Max Standfuss (1854-1917)Max Standfuss, Professor der Entomologie am Polytechnikum in Zürich, SchweizZürich/SchweizSchweiz, hat von Ende des 19ten bis Anfang des 20sten Jahrhunderts über einen Zeitraum von ca. 30 Jahren intensive Zuchtversuche mit Schmetterlingen durchgeführt. Zu seinen Untersuchungsobjekten gehörte dabei u.a. auch der TrauermantelNymphalis antiopa (Linnaeus, 1758)Trauermantel.
Max Standfuss (1854-1917)Max Standfuss kam im Rahmen seiner Versuche zu der Erkenntnis, dass die Temperaturbedingungen, denen eine Puppe während ihrer Entwicklung ausgesetzt ist, einen Einfluss auf Form und Zeichnung der Flügel des Imagos haben können Standfuss, 1896 - Handbuch der paläarkitischen Gross-Schmetterlinge für Forscher und Sammler.
Er unterteilte seine Versuchsreihen in Wärme- und Kälteexperimente und verglich verschiedene Konstellationen:
Versuchstyp | Parameter | Ergebnisse |
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a-I: Wärme | 48 Stunden bei 37º, danach 10 Tage Zimmertemperatur | Saum: Breiter. Dorsalflecke: Verkleinert |
a-II: Wärme | 60 Stunden bei 37º, danach 24º |
Saum: Noch breiter, dunkler, wellig ausgebuchtet.
Postdiskalflecke: Noch noch halbe Größe, violetter Stich.
Schwarzer Rand, Vorderflügel: Wellig ausgebuchtet.
Zeichnung, Flügelunterseite: Sehr schwach.
Flügelgrundfarbe, Oberseite: Dunkler.
Flügelgrundfarge, Unterseite: Dunkler, fast schwarz
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b-I: Kälte | 29-34 Tage Eiskasten (Temp. ?), danach normale (?) Temperaturen |
Saum: Schmäler, matter, durch braune und schwarze Punkte verdüstert.
Postdiskalflecke: Vergrößert.
Schwarzer Rand: Zum Teil nur noch als Rand der blauen Postdiskalflecke.
Flügelgrundfarbe: Oberseite: Heller
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b-II: Kälte | 39 Tage Eiskasten, 14-16 Tage normale Temperaturen |
Saum: Noch schmäler.
Postdiskalflecke: Noch größer, zum Teil in den Saum übergehend.
Flügelgrundfarbe, Oberseite: Dunkler
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b-III: Kälte | 44 Tage Eiskasten, 15-19 Tage normale Temperaturen |
Saum: Noch schmäler, noch weiter verdüstert.
Flügelgrundfarbe, Vorderflügel: dunkler.
Hinterflügel: Sammetschwarz.
Costalflecke: Reduziert
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b-IV: Kälte | 33 Tage Eiskasten, 5 Tage 11º, 15-16 Tage 29-23º |
Saum: Schmäler, bleicher.
Postdiskalflecke: Vergrößert, mit dunklen Flecken.
Flügelgrundfarbe, Oberseite: Dunkler.
Zeichnung: Flügelunterseite: Sehr stark
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Die aus Experiment a-II resultierenden Abweichungen benennt Max Standfuss (1854-1917)Max Standfuss Vanessa antiopa var. daubii Stdfs (siehe Formen/Aberrationen (f. daubii)), die aus Experiment b-III resultierenden Abweichungen benennt Standfuss Vanessa antiopa ab. roederi Stdf (siehe Formen/Aberrationen (f. roederi)).
In den Experimenten b-I und b-II entdeckt Max Standfuss (1854-1917)Max Standfuss auf den Flügeln des TrauermantelNymphalis antiopa (Linnaeus, 1758)Trauermantels Merkmale, die gewöhnliche Falter nicht zeigen, die allerdings beim Großer FuchsNymphalis polychloros (Linnaeus, 1758)Großen Fuchs und beim Großer FeuerfuchsNymphalis xanthomelasÖstlicher Großer FuchsGroßen Feuerfuchs vorhanden sind! Hierzu gehören beispielsweise die schwarzen runden Flecken in der Mitte der Vorderflügel der beiden letztgenannten Arten.
Max Standfuss (1854-1917)Max Standfuss schließt daraus zusammen mit anderen Erkenntnissen, dass der TrauermantelNymphalis antiopa (Linnaeus, 1758)Trauermantel und der Großer FuchsNymphalis polychloros (Linnaeus, 1758)Große Fuchs eng verwandt sind und dass es sich beim TrauermantelNymphalis antiopa (Linnaeus, 1758)Trauermantel um eine stammesgeschichtlichphylogenetisch jüngere Art handelt.
Aus Max Standfuss (1854-1917)Max Standfuss' Versuchen und insbesondere aus den (teilweise wage beschriebenen) Parametern lässt sich leider kein klarer Zusammenhang zwischen Größe der Parameter und den resultierenden Auswirkungen auf die Flügelzeichnung und Farbe erkennen. Daneben bleibt auch offen, warum gerade diese und keine anderen Parameter gewählt wurden.
Kurt Lampert (1859-1918)Kurt Lampert Lampert, 1907 - Die Großschmetterlinge und Raupen Mitteleuropas mit besonderer Berücksichtigung der biologischen Verhältnisse unterscheidet bei den von Max Standfuss (1854-1917)Max Standfuss und anderen Personen durchgeführten Versuchen zwei Gruppen:
Erstens Wärme- und Kälteversuche mit geringen Temperaturdifferenzen gegenüber normalen Temperaturen.
Zweitens Hitze- und Frostversuche mit großen Temperaturdifferenzen.
Während Versuche der ersten Gruppe Resultate zeigen, die auch in der Natur anzutreffen sind und sämtliche Individuen die gleichen Auswirkungen zeigen, sind die Ergebnisse der anderen Versuchsgruppe wesentlich extremer und nur einige Individuen zeigen die Veränderungen.
Aus Experimenten des Herrn Lehrer LöfflerLöffler in Heidenheim differenziert Kurt Lampert (1859-1918)Kurt Lampert zwei Typen von Formen:
- Vanessa antiopa L., ab. artemis Fisch. (18 Tage bei 2,5 bis 0º)
- Vanessa antiopa L., ab. hygiaea Hdrch. (4 Tage 2 mal 2 Stunden bei -10º)
Kurt Lampert (1859-1918)Kurt Lampert schreibt ferner, dass Max Standfuss (1854-1917)Max Standfuss und andere heraus gefunden haben, dass die neu erworbenen Eigentümlichkeiten auf Nachkommen übertragen werden.
Ist das wirklich so?
Arno Bergmann (1882-1960)Arno Bergmann Bergmann, 1952 - Die Großschmetterlinge Mitteldeutschlands beschreibt die Form Nymphalis antiopa f. hygiaeaNymphalis antiopa f. hygiaea (Linnaeus, 1758)Nymphalis antiopa f. hygiaea als eine Extremform, die sowohl bei starkem Frost, als auch bei starker Hitze entstehen kann.
Siehe auch Unterarten.
Der Schwerpunkt der Arbeiten des Zürich, SchweizZüricher Arztes und InsektenforscherEntomologen Emil Fischer (1868-1954)Emil Fischer war die experimentelle Lepidopterologie mit einem Fokus auf Kälte- und Wärmeexperimenten mit Faltern der (damaligen) Gattung VanessaVanessa. Darüber hinaus beschäftigte er sich als Anhänger des Theorie, dass Organismen Eigenschaften, die sie während ihres Lebens erworben haben, an ihre Nachkommen vererben könnenLamarckismus mit der Vererbbarkeit von beispielsweise in Temperaturexperimenten erworbenen Eigenschaften.
Seine Ergebnisse hat er in einer Vielzahl Veröffentlichungen dokumentiert, z.B.:
- Fischer, 1894 - Zwei neue Aberrationen von Vanessa antiopa
- Fischer, 1895 - Transmutation der Schmetterlinge in Folge Temperaturänderungen. Experimentelle Untersuchungen über die Phylogenese der Vanessen.
- Fischer, 1898 - Beiträge zur experimentellen Lepidopterologie, Teil V bis X
- Fischer, 1899 - Beiträge zur experimentellen Lepidopterologie, Teil XI bis XII
- Fischer, 1900 - Lepidopterologische Experimental-Forschungen - Kritische Abhandlung über Ursache und Wesen der Kälte-Varietäten der Vanessen - I
- Fischer, 1901 - Experimentelle Untersuchungen über die Vererbung erworbener Eigenschaften
- Fischer, 1901 - Lepidopterologische Experimental-Forschungen - Kritische Abhandlung über Ursache und Wesen der Kälte-Varietäten der Vanessen - II Experimente
- Fischer, 1902 - Lepidopterologische Experimental-Forschungen
- Fischer, 1902 - Drei neue Formen aus der Gruppe der Vanessiden
- Fischer, 1907 - Zur Physiologie der Aberrationen- und Varietäten-Bildung der Schmetterlinge
Emil Fischer (1868-1954)Emil Fischer und Max Standfuss (1854-1917)Max Standfuss waren nicht nur Zeitgenossen, sondern lebten auch beide in der SchweizSchweiz in Zürich, SchweizZürich. Sie kannten sich, jedoch entbrannte 1895 ein Streit zwischen dem wesentlich jüngeren damaligen Medizin-Studenten Emil Fischer (1868-1954)Emil Fischer und dem Privatdozenten Max Standfuss (1854-1917)Max Standfuss. Siehe hierzu den Einschub in Formen/Aberrationen (f. roederi).
Der Bonn, DeutschlandBonner Lepidopterologe Karl Frings (c.1873-1931)Karl Frings hat zur gleichen Zeit wie Max Standfuss (1854-1917)Max Standfuss um die Jahrhundertwende vom 19ten ins 20ste Jahrhundert Temperaturexperimente mit Schmetterlingen durchgeführt.
Aufgrund der guten Eignung des TrauermantelNymphalis antiopa (Linnaeus, 1758)Trauermantels war auch dieser Falter Gegenstand diverser seiner Versuchsreihen.
Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass bei den Experimenten oft nur wenigen Prozent der Puppen auch wirklich Falter entschlüpften. Und das, obwohl die Falter ausgebildet und die Flügel sichtbar waren.
Karl Frings (c.1873-1931)Karl Frings beschreibt diverse Versuchsreihen und deren Resultate, von denen eine kleine Auswahl im Folgenden zu sehen ist Frings, 1899 - Experimente mit erniedrigter Temperatur im Jahre 1898 Frings, 1901 - Temperatur-Versuche im Jahre 1900 Frings, 1902 - Bericht über Temperatur-Experimente im Jahr 1901 Frings, 1903 - Temperatur-Versuche im Jahr 1902 Frings, 1904 - Bericht über meine Temperatur-Versuche in den Jahren 1903-1904:
In Experimenten erzielte Nymphalis antiopa f. hygiaeaNymphalis antiopa f. hygiaea (Linnaeus, 1758)Nymphalis antiopa f. hygiaea
In Experimenten erzielte Nymphalis antiopa f. daubiiNymphalis antiopa f. daubii (Linnaeus, 1758)Nymphalis antiopa f. daubii:
In Experimenten erzielte Nymphalis antiopa f. artemisNymphalis antiopa f. artemis (Linnaeus, 1758)Nymphalis antiopa f. artemis:
In Experimenten erzielte Nymphalis antiopa f. obscuraNymphalis antiopa f. obscura (Linnaeus, 1758)Nymphalis antiopa f. obscura:
In Experimenten erzielte Kombinationen von Formen:
Karl Frings (c.1873-1931)Karl Frings berichtet in Frings, 1902 - Bericht über Temperatur-Experimente im Jahr 1901 an einem Beispiel, wie bei Zuchten Abweichung von der normalen Form einer ArtAberrationen auch zufällig entstehen können:
Im Sommer 1900 erzog ein hiesiger Herr eine Anzahl antiopa-Raupen. Als sich die meisten bereits am Deckel des Zuchtbehälters verpuppt hatten, blieb letzter zufälligerweise einige Stunden der heissen Mittagssonne ausgesetzt. Viele Tiere gingen ein; unter den geschlüpften Faltern befand sich ein Exemplar mit verkleinerten blauen Flecken und zusammengeflossenen hellen Costalflecken, also ein Uebergang zu ab. hygiaea. Eine fast typsiche hygiaea blieb in der Puppe. Aehnlichen Zufällen mögen oft genug die bei "normaler Puppenbehandlung" erzogenen Aberrationen ihre Entstehung verdanken.